Die Verkaufsfläche in Einkaufszentren und Fachmarktzentren Österreichs nimmt stündlich um 5,39 Quadratmeter zu. Laut Statistik Austria gehen in der Alpenrepublik pro Minute 30,8 Quadratmeter Ackerfläche verloren, pro Stunde werden 2,63 neue Gebäude fertiggestellt, pro Minute 9,89 Quadratmeter Straße gebaut und pro Minute 37,44 Quadratmeter Boden versiegelt. Gleichzeitig steigt der Wert von gewidmetem, aber nicht verbautem Bauland um 745,78 Euro pro Sekunde. Die durchschnittliche Wohnfläche pro Person in Österreich liegt bei 45,3 Quadratmetern. Seit 2004 ist sie damit um 4,3 Quadratmeter oder 10,5 Prozent gestiegen. Mittlerweile könnten alle ÖsterreicherInnen in bereits bestehenden Einfamilienhäusern untergebracht werden, bei einem Schlüssel von etwa 4,16 Personen pro Wohneinheit – und trotzdem wird weiter Bauland gewidmet.
Es sind Zahlen, die eine sehenswerte Ausstellung derzeit in Wien liefert: „Boden für Alle“ heißt die Schau im Architekturzentrum (bis 19. Juli 2021). Sie führt eindringlich vor Augen, dass die Oberfläche der Erde endlich und Boden ein kostbares Gut ist. Ein sorgloser oder kapitalgetriebener Umgang mit dieser Ressource hat in den vergangenen Jahrzehnten auch Gestalt und Funktion unserer Städte und Dörfer massiv verändert. Durch die Zersiedelung fransen die Wohngebiete aus, viele (Klein-)Stadt- und Dorfkerne beklagen ein Geschäfte- und Greißlersterben.
Die Leerstandsquote in den Geschäftsstraßen der Innenstädte hat um 23 Prozent zugelegt (2014-2017). Die Anzahl der Shopping-Center, also Einkaufs- und Fachmarktzentren, ist von 172 auf 235 gestiegen (2007-20017). Fast gleichzeitig (2006-2018) sind etwa in Wien die Mieten um mehr als 50 Prozent gestiegen, das durchschnittliche Nettoeinkommen aber nur um knapp 19 Prozent. Die Flächeninanspruchnahme ist um 25,44 Prozent gestiegen (2006-2019), wenn sie in diesem Ausmaß weiter zulegt, gibt es in Österreich im Jahr 2173 keinen fruchtbaren Boden mehr.
Klar ist, was die Nachfrage sowie Werte – und Preise – von Grundstücken erhöhen: einerseits Bevölkerungswachstum, andererseits der Rückzug der öffentlichen Hand, Finanzialisierung des Bodens als Anlageform und Investitionen der öffentlichen Hand (U-Bahn-Ausbau etc.). In Österreich ist die größte Eigentümerin die Republik selbst, vor allem die Bundesforste: Von den 84.000 Quadratkilometern (8,4 Millionen Hektar) besitzen sie 861.000 Hektar. Es folgen als größte Großgrundbesitzer die Stadt Wien (58.000), der Alpenverein (33.500), Adelsfamilien wie Esterházy, Mayr-Melnhof-Saurau, Liechtenstein (von 44.000 bis 25.000 Hektar), die Katholische Kirche (Stift Admont, Stift Klosterneuburg) sowie (Familien-)Stiftungen.
"Boden ist nicht produzierbar wie Joghurt."
Wenn relativ viel Grund und Boden in der öffentlichen Hand bleibt, sind die Vorteile tendenziell eine preisberuhigende Wirkung und die Entscheidungsmacht der Verwaltung, was mit dieser Ressource geschehen soll. Dennoch wurde in der Vergangenheit auch in Österreich viel, Boden ebenso wie Wohnungen, privatisiert. In der Bundeshauptstadt sind nach wie vor mehr als 50 Prozent des Bodens im Besitz der Stadt Wien und der Republik Österreich – im internationalen Vergleich sind es in Basel 40, in Luxemburg zehn und in Großbritannien, wo ein Prozent der Bevölkerung 50 Prozent des Landes gehört, sogar nur acht Prozent.
Ein anderer Weg ist möglich
Mit mehr als 220.000 „Gemeindewohnungen“ ist Wien größte Wohnungseigentümerin Europas. Die Grundstückspreise sind im Westen Österreichs sowie rund um die Landeshauptstädte höher als im Osten. Einem Quadratmeter-Preis von 1712,70 Euro im Tiroler Kitzbühel stehen lediglich 7,80 Euro in Deutsch Schützen-Eisenberg im Südburgenland gegenüber. Boden ist nicht produzierbar wie Joghurt, wie die Schweizer Politikerin Jacqueline Badran in einem Interview meinte. Schwerpunkt ihrer politischen Arbeit ist die Regulierung der Wohn- und Bodenfrage. In Zürich hat die Lokalmandatarin den wohnpolitischen Grundsatzartikel der Gemeindeverordnung unter dem Titel „Bezahlbare Wohnungen für Zürich“ maßgeblich mitgeprägt.
Wer sich etwas traut, kann (rechtliche) Rahmenbedingungen veranlassen, um Boden als öffentliches und natürliches Gut zu schützen. Zum Beispiel in den Niederlanden war über ein Jahrhundert lang die ENCI-Kalkgrube bedeutend in der Zementerzeugung – 2018 wurde die künstliche Landschaft in ein Naturreservat verwandelt, das Raum für Naherholung, seltene Pflanzen und Vögel bietet. In Südkoreas Hauptstadt Seoul wurde 2005 ein 10,9 Kilometer langes Stück der Stadtautobahn abgerissen, der darunter befindliche Fluss renaturiert und ein Park geschaffen. In New York City ist eine brach liegende Güterzugtrasse im Westen von Manhattan von 2006-2019 zum mittlerweile sehr beliebten High Line Park, in 7,5 Metern Höhe mit Blick auf den Hudson River, umgestaltet worden. Ein ähnliches Projekt plant Wien auf der ehemaligen Stadtbahntrasse.
In Wien-Simmering wird gerade ein ehemaliges Zirkustrainingsgelände an der Ostbahn in ein selbstverwaltetes Kultur-, Werkstätten- und Wohnprojekt umgewandelt. Im niederösterreichischen Gutenstein versucht ein Wiener Start-up-Unternehmen, den Ort via „Dorfschmiede für nachhaltige Lebensräume“ zu reaktivieren. In Vorarlberg hat der Unmut über die fortscheitende Verbauung von wichtigem Grünraum zu einem Zusammenschluss Gleichgesinnter geführt, die um die Freihaltung von Boden kämpfen, und den Verein „Bodenfreiheit“ gegründet. Auch so kann es gehen.
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