oekoreich: Die Berichte über leidende Rinder und Schafe auf Schiffen im Mittelmeer haben viele Menschen zurecht emotionalisiert. Was ist hier konkret geschehen?
Thomas Waitz: Jede Woche fahren Schiffe mit Tieren an Bord übers Mittelmeer, Europa exportiert hunderttausende Tiere jedes Jahr. In diesem konkreten Fall waren gemästete Jungrinder aus Spanien auf dem Weg zur Schlachtung, unter anderem in die Türkei. Dort hatte ein Amtstierarzt jedoch den Verdacht geäußert, dass die Tiere mit der Blauzungenkrankheit infiziert sein könnten, weil die Tiere aus einer Region in Spanien stammen, wo diese Krankheit bei anderen Tieren festgestellt worden war. Sie wurden zwar nie getestet, ihre Entladung dennoch untersagt.
Wir vermuten, dass das wirtschaftliche Gründe hatte und man hier in Wahrheit von einem Geschäft kostenneutral zurücktreten wollte. Die Schiffe fuhren dann weiter nach Libyen, sie waren im Libanon, in Sardinien, auf Zypern, in Griechenland. Es gleicht einer Odyssee, die Tiere sind seit drei Monaten am Meer unterwegs. Viele Rinder wurden seekrank, haben ein geschwächtes Immunsystem und sind daher anfällig für Krankheiten, dutzende von ihnen sind bereits verstorben. Die toten Tiere werden dann über Bord geworfen, was übrigens illegal ist, die aufgeblähten Kadaver werden dann an Stränden angespült.
Die Tiere von einem Schiff wurden dann in Spanien eingeschläfert, ohne jedoch vorher getestet worden zu sein. Das zweite Schiff ist immer noch unterwegs, angeblich nach Beirut.
oekoreich: Ist es üblich, dass junge Rinder in den Nahen Osten oder nach Nordafrika zum Schlachten verschifft werden?
Thomas Waitz: Man muss hier zwei Dinge differenzieren, einerseits die sogenannten Zuchtrinder, andererseits die Schlachttiere. Unsere Erkenntnis ist, dass vorgeblich zum Herdenaufbau vorwiegend trächtige Kalbinnen transportiert werden, die nach der Geburt geschlachtet werden. Und auch wenn es offiziell heißt, dass Österreich keine Schlachtrinder exportiert, so stimmt das nachweislich nicht. Denn die exportierten Milchkälber sind künftige Schlachttiere, sie erleben halt noch einen Zwischenstopp zur Mast und werden dann auf den Schiffen in den Nahen Osten gebracht.
Bei den Schiffen gibt es mehrere Probleme: Üblicherweise sind die Tiere etwa zwei Wochen unterwegs, etwa in die Türkei oder nach Libyen, manchmal aber auch bis zu fünf Wochen, wenn sie in den Persischen Golf gebracht werden. Dort hat es im Sommer im Durchschnitt rund 40 Grad im Schatten, da sterben die Tiere an Hitzestress noch an Bord. Aber der Preisunterschied ist so hoch, dass sich das dennoch rentiert. Ein rumänischer Schafbauer erhält bei uns 25 Euro für ein Schaf, in Kuwait am Markt kriegt er aber 250 Euro pro Tier. Selbst wenn die Hälfte der Tiere unterwegs stirbt, ist es immer noch ein Geschäft.
Ein großes Problem ist, dass es bei den Schifftransporten keinerlei Regelungen zu Transport- und Ruhezeiten gibt. Es ist extrem laut an Bord, es gibt eine hohe Ammoniak-Belastung, das Immunsystem der Tiere bricht zusammen, sie werden seekrank – dass es hier keine Regeln gibt, ist ein Skandal. Man muss sich vor Augen halten: Beim Import von Fleisch gibt es in der EU klare Standards, unter denen das hergestellt werden durfte. Ein Gerichtsurteil kam zur Erkenntnis, dass das auch für den Export gelten müsste. Wir dürften also eigentlich keine lebenden Tiere exportieren, wenn wir davon ausgehen müssen, dass europäische Standards nicht eingehalten werden. Es wird auch im EU-Untersuchungsausschuss zu den Tiertransporten klar, dass es so nicht weitergehen kann. Der europäische Gerichtshof hat geurteilt, dass unsere Bestimmungen bis zum Zielort gelten. Bis zum Moment, wo sie von Bord gehen, gilt europäisches Recht. Das wird bislang überhaupt nicht kontrolliert.
oekoreich: Gibt es denn keine Behörde, die das exekutiert?
Ja, es gibt eine Behörde, in Wahrheit ist es die Gesundheitsabteilung der Kommission, die hier zuständig ist. Doch die Behörden, die für die Kontrollen zuständig sind, unterliegen den Mitgliedsstaaten. Es hat sich aber gezeigt, dass die Kommission keine Daten besitzt, ob und wie kontrolliert wird, ob und welche Strafen verhängt werden. Es gibt ein System, TRACES, in dem ein Amtstierarzt nachschauen kann, wo die Transporte gestartet sind und wie lange die Tiere unterwegs sind – aber nur die Amtstierärzte. Auch wir EU-Abgeordneten haben keinen Einblick, nicht mal wir Mitglieder des Untersuchungsausschusses. Mit der Begründung, dass die Daten den Mitgliedsstaaten gehören.
Das ist ein System, das nicht dazu führt, dass europäische Gesetzgebung durchgesetzt wird. Die Kommission könnte die Staaten verpflichten ordentliche Berichte zu verfassen und ob die Verordnungen durchgesetzt werden. Sollte das nicht der Fall sein, könnte sie Vertragsverletzungsverfahren durchführen. Bislang wurde keiner einzigen Beschwerde nachgegangen, nicht mal jenen, die von der Polizei dokumentiert wurden. Hier ist ein schwerer Mangel, die Kommission hat in den letzten Jahren nichts dazu getan, ihre eigenen Gesetze durchzusetzen.
oekoreich: Wenn europäischen Vorschriften zu lasch oder nicht vorhanden sind und ihre Exekution weder dokumentiert noch kontrolliert wird – wie soll das weitergehen?
Eines ist klar: Die Mitgliedsstaaten sind in der Pflicht. Durch die enorme öffentliche Aufmerksamkeit, durch die fraktionsübergreifende Zusammenarbeit im EU-Parlament, entsteht ein gewaltiger politischer Druck. Es gab schon einige Verbesserungen, etwa Überprüfungen von Häfen, wodurch es nachweislich in manchen Bereichen zu einem Fortschritt kam. Auch auf nationalstaatlicher Ebene gibt’s Verbesserungen, auch wenn die noch lange nicht reichen. Die Kommission wird aber auf Basis der Ergebnisse des Tiertransporte-Untersuchungsausschusses eine Reform durchführen. Hier kommt etwas in Bewegung. Das ist hauptsächlich das Resultat des öffentlichen Drucks, denn wenn etwa Politiker in Meinungsumfragen sehen, dass das Thema den Menschen wichtig ist, 70 Prozent der europäischen Bevölkerung, dann beginnen sie zu handeln.
oekoreich: Ein weiteres drängendes Thema ist Mercosur. Hast du das Gefühl, dass das Abkommen tatsächlich gescheitert ist?
Die Kommission hat versucht die angekündigte Blockade einiger Mitgliedsstaaten zu umgehen, das konnten wir glücklicherweise rechtzeitig verhindern. Die Argumente gegen das Abkommen sind so massiv, etwa wenn es um die Abholzung des Regenwalds geht, allen ist bewusst, dass das so nicht geht. Jetzt versuchen die Befürworter mit einem Zusatzdokument, voll der schönen Worte, doch noch den Vertrag durchzubringen. In Österreich sind die Grünen ganz klar gegen Mercosur, denn was derzeit vorliegt muss aus unserer Sicht in seiner Gesamtheit abgelehnt werden. Die Volkspartei ist in sich gespalten.
Der Bauernbund lehnt das Abkommen ab, weil es für die bäuerliche Landwirtschaft eine große Gefahr darstellt, doch die Exportwirtschaft, also der Wirtschaftsflügel, ist dafür. Nachdem Sebastian Kurz eine Politik nach Umfragen macht, erleben wir derzeit bei der ÖVP eine Mimikry-Politik, wo so getan wird, als wären sie eh dagegen, gleichzeitig wird versucht sich eine Hintertür offen zu lassen. Das erkennt man auch daran, dass entgegen der gültigen Beschlüsse innerhalb der Koalition, die österreichische Wirtschaftsministerin auf europäischer Ebene keine Bedenken gegen das Abkommen angemeldet hat, obwohl sie das eigentlich hätte tun müssen.
oekoreich: Die Art und Weise, wie wir in Europa Lebensmittel erzeugen, hängt massiv von der Verteilung von Agrar-Fördergeldern ab. Wir erleben ein massives Bauernsterben, wie geht’s beim EU-Budget im landwirtschaftlichen Bereich weiter?
In den 1950er-Jahren war die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union dazu da, die Lebensmittelversorgung zu sichern. Seit den 1980er- und 1990er-Jahren ist sie hingegen auf die Weltmarktfähigkeit ausgerichtet. Es wird also von den landwirtschaftlichen Betrieben erwartet, dass sie Produkte unter den eigenen Produktionskosten für den Markt zur Verfügung stellen. Nachdem davon niemand leben kann, geben wir den Produzenten aus unserem Steuergeld ein Einkommen. Diese Förderungen sind auf die Fläche ausgerichtet, je größer also der Betrieb, umso mehr Geld erhält er – das befördert den sogenannten „Strukturwandel“.
Es hat sich in osteuropäischen Ländern ein agrarisches Oligarchentum entwickelt, nachdem ehemals im Staatsbesitz befindliche Flächen an die Freunde und Geschäftspartner von Machthabern verkauft wurden. In Tschechien etwa besitzt der amtierende Premierminister das größte Agrarunternehmen des Landes und erhält rund 50 Millionen Euro an europäischen Agrarförderungen. Das ist ein massiver Interessenskonflikt. Der Erfolg der aktuellen europäischen Agrarpolitik schaut so aus, dass Futtermittel in Argentinien, Brasilien oder den USA angebaut werden, die dann an Tiere bei uns verfüttert werden, damit das Fleisch dann nach China exportiert wird. Europa ist der größte Agrarexporteur der Welt. Wer also nach niedrigeren Umweltauflagen ruft, dem geht es in Wahrheit nicht um die Selbstversorgung für die europäische Bevölkerung, sondern um den Export.
Wir brauchen einen Kulturwandel: Europäisches Steuergeld sollte primär an europäische Bäuer*innen fließen, damit sie gesunde Lebensmittel im Einklang mit der Natur und dem Klima für europäische Bürger*innen erzeugen können. Die Pläne für die neue GAP-Förderperiode sehen leider nicht danach aus. Auch im Bereich von Tierwohl oder Klimaschutz sind kaum Ambitionen sichtbar. Die Landwirtschaft hätte die Chance ein Teil der Lösung zu werden, statt Teil des Problems zu bleiben.
oekoreich: Abschließend: Gerade bei Tierwohl und Landwirtschaft wird oft behauptet, dass wir besser dran wären, wenn wir nicht EU-Mitglied wären. Wie siehst du das?
Die wirtschaftlichen Vorteile für Österreich überwiegen die nationalen Beiträge bei weitem – um den Faktor 10. Wir haben also ungefähr zehnmal mehr Einnahmen als Volkswirtschaft, als wir ausgeben. Natürlich gibt’s viel Kritikwürdiges und das soll man auch offen ansprechen. Aber gerade jetzt, mit dem „Green Deal“ und der „Farm to Fork“-Strategie, geht die Kommission einen extrem ambitionierten Weg. Sie muss sich aber gegen die Partialinteressen von einzelnen Mitgliedsstaaten durchsetzen, die oft von Profitinteressen von Industrien beeinflusst sind.
Es ist etwa eine Kampfansage an die Chemieindustrie, wenn künftig nur noch die Hälfte der Pestizide eingesetzt werden dürfen. Und diese Konzerne schicken dann eine ganze Heerschar an Lobbyisten, denn es geht hier um Milliarden an Einkünften. Aus meiner Sicht zeigt sich die Kommission gerade aktuell als Verbündeter der Interessen der Bevölkerung. Österreich war einst ein Umwelt-Musterland, das stimmt für die letzten 15 Jahre nicht mehr. Umweltpolitik wird seit Jahren primär von der EU gemacht. Vieles kann auch nur auf EU-Ebene sinnvoll umgesetzt werden. Tiertransporte sind dafür das beste Beispiel. Hier bringen nationale Alleingänge nichts, da müssen die Mitgliedsstaaten zusammenarbeiten.
oekoreich: Vielen Dank für das spannende Gespräch!
Thomas Waitz (48) ist österreichischer Biobauer, Forstwirt und Politiker der Grünen. Von 2017 bis 2019 und erneut seit 2020 ist er Mitglied im Europäischen Parlament. Seit 2019 ist er zudem Ko-Vorsitzender der Europäischen Grünen Partei, dem Zusammenschluss von europaweit 39 grünen Parteien. Waitz ist im EU-Parlament u.a. Mitglied in den Ausschüssen für Agrarpolitik und Auswärtige Angelegenheiten und im Tiertransporte-Untersuchungsausschuss. Ein Video zu seiner Arbeit im Bereich der Tiertransporte kann man hier nachsehen, aktuelle Infos rund um seine Arbeit gibt es auf seiner Website.
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